Gusseisen mit Lamellengraphit

Allgemein

Dieser Werkstoff, bei dem durch entsprechende Einstellung der Eisenzusammensetzung und des Erstarrungsvorganges der Hauptanteil des Kohlenstoffs im Gusszustand überwiegend in Form von lamellarem Graphit vorliegt (Bild 1), ist in der europäischen Norm EN 1561 (DIN EN 1561) genormt.

In dieser Norm wird unterschieden, ob die kennzeichnende Eigenschaft für die Abnahme eines Gussstückes die Zugfestigkeit oder die Brinellhärte ist. Die Festlegung der kennzeichnenden Eigenschaft muss in der Gussstückbestellung angegeben sein. Die einzuhaltenden Zugfestigkeits- oder Brinellhärtewerte sind nach den Gussstückwanddicken gestaffelt.

Bild 2 zeigt ein Diagramm über den Zusammenhang zwischen Zugfestigkeit und Wanddicke mit Angabe des Sättigungsgrades Sc.

Nach W. Weis und K. Orths lässt sich die Zugfestigkeit im Gussstück praktisch zerstörungsfrei bestimmen, wenn die Brinellhärte HB und die Eisenzusammensetzung bekannt sind und die Gefügegrundmasse vorwiegend perlitisch ist:

Durch die Einbeziehung der Brinellhärte wird auch der Einfluss der Abkühlungsgeschwindigkeit hinreichend berücksichtigt.

Bild  3 zeigt ein Eigenschaftsnomogramm über die Wanddicken- und Sortenabhängigkeit von der Zugfestigkeit, Keildruckfestigkeit, Härte und dem Elastizitätsmodul sowie dessen Abfall bei Zugbeanspruchung. Der linke Nomogrammteil enthält die Informationen der üblichen Graugussdiagramme, nämlich die durchschnittlichen Erwartungswerte für Zugfestigkeit und Härte im Gussstück je nach Sorte und Wanddicke (Pfeile 1, 2, 3). Der linke untere Bildteil gibt den Zusammenhang zwischen Sorte und Graphitmenge wieder, ausgedrückt durch den Sättigungsgrad (Pfeil 4), und im linken mittleren Bildteil ist für die Beurteilung realer Gussstücke der Zusammenhang zwischen Keildruckfestigkeit (KDF) und Zugfestigkeit (Rm) dargestellt. Aus der am Gussstück gemessenen Keildruckfestigkeit können die im Gussstück vorliegende Zugfestigkeit und unter Berücksichtigung der Wanddicke auch die Sorte abgeschätzt werden, der das Gussstück zuzuordnen ist (Pfeile 5, 2, 1). Im rechten Nomogrammteil sind die Erwartungswerte für das Verformungsverhalten in Abhängigkeit von der Zugfestigkeit im Gussstück und der Gusseisensorte wiedergegeben (Pfeile 3, 6, 7).

Das Verformungsverhalten wird im Nomogramm von Bild 3 durch den E0-Modul für den unbelasteten Zustand und bei gegebener Belastung durch den Sekantenmodul ES für die Gesamtverformung beziehungsweise durch den Tangenmodul ET für die elastische Dehnung beschrieben, deren Werte mit steigender Belastungshöhe abnehmen. Dieser E-Modul-Abfall kann für Zugbeanspruchungen bis circa 50 % der Zugfestigkeit als linear angenommen werden. Der E0-Modul von Gusseisen mit Lamellengraphit verhält sich gleichsinnig mit der Zugfestigkeit, das heißt, er steigt mit der Graphitmenge (steigende Sorten bis EN-GJL 350) und mit der Graphitgröße (abnehmende Wanddicke). Der Einfluss der Graphitmenge ist im Nomogramm zweifach dargestellt, indem einmal die Sorte und das andere Mal die chemische Zusammensetzung (über den Sättigungsgrad) als Parameter angegeben sind. Mit steigender Zugfestigkeit wird auch der E-Modul-Abfall unter Belastung geringer, die zugspannungsbedingten E-Modul-Abfallraten m nehmen also ab.

Hohe Festigkeit im Gusseisen mit Lamellengraphit wird, wie schon erwähnt, in erster Linie durch hohen Anteil an Primäraustenit bei der Erstarrung erzielt. Dies ist der Hauptgrund für den Festigkeitsanstieg mit abnehmendem Sättigungsgrad beziehungsweise Kohlenstoffäquivalent. Es bedeutet praktisch die Einstellung eines niedrigeren Kohlenstoffgehaltes, doch sind damit auch relativ ungünstigere Gießeigenschaften verbunden. Es können harte Stellen (ledeburitische Carbide) im Gefüge entstehen, die die mechanische Bearbeitung stören.

Schädlich auf die Festigkeit wirkt im Übrigen auch der eutektische Graphit, da er eine Werkstofftrennung darstellt, die die Kontinuität der metallischen Grundmasse unterbricht. Festigkeitsverbesserungen lassen sich durch Verminderung des Anteils an eutektischem Graphit erreichen, also durch Senkung des Sättigungsgrades, was ja auch den Anteil an Primäraustenit erhöht. Da die lamellenförmigen Graphitteilchen aber auch spannungserhöhend wirken, ist es zweckmäßig, sie möglichst klein zu halten, das bedeutet auch die eutektische Kornzahl zu erhöhen, wodurch sich eine Steigerung der Festigkeit ergibt.

Entscheidend für die Endfestigkeit im Gussstück sind die Produkte der Austenitumwandlung bei der A1-Temperatur. Unter Gleichgewichtsbedingungen wandeln dabei die Gusseisengefüge in Ferrit und Perlit um. Die Gusseisenzusammensetzungen, die Graphitausbildungen und die Abkühlgeschwindigkeiten sind aber in der Praxis bei den meisten Gussstücken so, dass die Gleichgewichtsbedingungen nicht erreicht werden und die Gefüge unterschiedliche Perlitgehalte aufweisen. Da höchste Festigkeit nur mit vollperlitischem Gefüge erreichbar ist, kommt es auf eine gezielte treffsichere Perlitbildung an. Es muss also bei Erreichen der A1-Temperatur noch genügend Restaustenit vorhanden sein, der in Perlit umwandelt.

Das Verbleiben von Restaustenit wird weitgehend vom Kohlenstoffgehalt des Austenits bestimmt. Jede Maßnahme, welche die Kohlenstoffdiffusion (Graphitisierung) vom Austenit zum Graphit hemmt, erhöht die Bereitschaft zum Verbleiben von Restaustenit, bis das Gebiet der eutektoiden Umwandlung (Abkühlung unter die A1-Temperatur) erreicht ist. Nützlich für die Erzielung eines perlitischen Gefüges sind daher grob verteilter Graphit (A-Graphit) und rasche Abkühlung, damit kein freier Ferrit gebildet wird (Bild  4). Ein geringer Zusatz bestimmter Legierungselemente fördert die Umwandlung in Perlit dadurch, dass sie im ZTU-Diagramm das Feld der Perlit- und Ferritumwandlung zu längeren Zeiten und tieferen Temperaturen verschieben (Bild 5).

Ein bei niedrigerer Temperatur gebildeter Perlit ist feiner und daher auch fester, härter, und verschleißbeständiger. Dieser Effekt der Perlitfeinung ist somit für die Festigkeitssteigerung nützlich, kann aber auch durch Heißausleeren und beschleunigte Abkühlung erreicht werden. Als Legierungselemente zur Erzielung eines möglichst vollperlitischen Gefüges (eventuell verbunden mit Perlitfeinung) kommen Kupfer beziehungsweise kombinierte Zusätze von Kupfer und Chrom, Molybdän und Chrom, Molybdän und Nickel oder Molybdän und Kupfer in Frage. Hierzu seien einige Richtwerte genannt, die jedoch auch auf die Gussstückwanddicke abgestimmt werden müssen:

 1,0 % Cu + 0,25 % Cr
oder 1,5 % Cu + 0,35 % Cr
oder 2,0 % Cu + 0,45 % Cr
oder 1,0 % Cu + 0,25 % Cr + 0,25 % Mo
oder 1,0 % Cu + 0,35 % Mo
oder 1,5 % Cu + 0,35 % Mo

Der Sättigungsgrad wird naheutektisch (Sc = 0,85 bis 0,95) eingestellt. Hochwertiger Maschinenguss wird vorwiegend aus Gusseisen mit Lamellengraphit mit geringen Legierungszusätzen hergestellt, wenn es auf die Erzielung eines rein perlitischen Gefüges ohne freien Ferrit und ohne ledeburitische Carbide mit hoher Zugfestigkeit und Härte bei gleichzeitig guter Bearbeitbarkeit ankommt.

An Stelle von Kupfer kann auch Nickel als gemeinsamer Legierungszusatz mit Chrom verwendet werden. Nickel wirkt graphitisierend und verhindert so die Gefahr von Kantenhärte, wie sie bei Chromgehalten allein durchaus gegeben sein könnte. Üblicherweise stellt man den Legierungszusatz so ein, dass das Verhältnis Cr: Ni etwa 1 : 3 beträgt. Der geringe Chromanteil führt dabei zu einer Festigkeitssteigerung, die vom Nickel allein nicht im gleichen Maße erzielbar wäre. So erbringen beispielsweise 1 % Nickel + 0,3 % Chrom die gleiche Festigkeitszunahme wie 2 % Nickel ohne Chromzusatz. Hinzu kommt, dass in gleicher Weise auch das Perlitfeld erweitert wird (größere Bandbreite des zulässigen Siliziumgehaltes) und das Gusseisen weniger wanddickenempfindlich ist.

Eine stark perlitbildende und perlitstabilisierende Wirkung hat auch Zinn, ohne dass es die Bildung freier Carbide verursacht. In der Regel genügen Zusätze von nur 0,1 % Zinn zur Erzielung einer ferritfreien perlitischen Gefügegrundmasse im grauen Gusseisen, und zwar auch dann, wenn Unterkühlungsgraphit entstehen sollte.

Häufig wird auch Molybdän als Legierungszusatz benutzt, und zwar ebenfalls in Kombination mit Kupfer, Nickel oder Chrom. Beabsichtigt ist dabei eine Steigerung der Zugfestigkeit, wobei die Molybdänzusätze mit den graphitisierenden Elementen Kupfer oder Nickel speziell für relativ dünnwandige Gussstücke gedacht sind, während jene mit Chrom hauptsächlich bei dickwandigen Stücken vorgesehen werden, um dort in Anbetracht der relativ geringen Abkühlungsgeschwindigkeit einen Festigkeitsabfall infolge Ferritbildung zu vermeiden. Eine Übersicht über den Einfluss kleiner Legierungszusätze vermittelt die Tabelle.