Nach Angaben der Internationalen Energieagentur IEA wird die Nachfrage nach Stahl weiter steigen – bis zum Jahr 2050 schätzungsweise um rund ein Drittel. Umso wichtiger ist es, grünen Stahl nicht nur in Pilotanlagen, sondern in industriellem Maßstab herstellen zu können. [1]
Welche Möglichkeiten gibt es für eine nahezu CO₂-neutrale Stahlerzeugung?
Stahl kann entweder aus recyceltem Schrott oder aus Eisenerz hergestellt werden, wobei 70 % des weltweit produzierten Stahls aus Erz gewonnen wird – in der Regel im Hochofen. Die hohen Temperaturen, die für diesen Prozess erforderlich sind, werden mit kohlenstoffintensivem Koks erzeugt. Durch die Verwendung von Erdgas für Hochöfen können die Emissionen gesenkt werden. Klimaneutral ist dieser Stahl jedoch nicht.
Die Verarbeitung von recyceltem Schrott ist weniger emissionsintensiv, da sie auf Basis von Strom erfolgt. Aber es gibt einen Haken: "Durch die Substitution von Roheisen durch Schrott kann ein Stahlhersteller zwar seinen individuellen CO2-Fussabdruck senken. Die CO2-Emissionen im Gesamtsystem bleiben davon jedoch unberührt," erklärt Dr. Martin Theuringer, Geschäftsführer der WV Stahl. [2]
Nach Stand der Technik liegt der Schlüssel zur Dekarbonisierung in der vollständigen Elektrifizierung der Produktion, also dem Austausch der (mit fossilen Energieträgern betriebenen) Hochöfen durch Elektrolichtbogenöfen. In diesen lassen sich dann mit Wasserstoff sogenannte Direktreduktionsanlagen betreiben. Je nachdem, wie der Wasserstoff hergestellt wird, könnten die Emissionen bei der Primärstahlerzeugung um bis zu 90 % gesenkt werden. Eine bestimmte Menge an Restemissionen sowie eingekaufte Emissionen im Verlauf der Lieferkette sind nach heutigem Stand der Technik unvermeidbar.
Wasserstoff, der nur mit erneuerbaren Energien erzeugt wird, ist aber in den nächsten Jahren kaum verfügbar. Insofern muss auf Erdgas als "Brückentechnologie" zurückgegriffen werden.

Der grüne Umbau hat (gerade erst) begonnen
Die Stahlhersteller investieren in neue Anlagen und kohlenstoffärmere Produktionsverfahren.
Salzgitter hat das gewaltige Umbauprojekt "Salcos" gestartet. Die Abkürzung steht für „Salzgitter Low CO2 Steelmaking“. Geplant ist eine wasserstofffähige Direktreduktionsanlage und ein Elektrolichtbogenofen. Bis grüner Wasserstoff lieferbar sein wird, soll die Anlage mit Erdgas laufen. Im Saarland soll in den nächsten fünf Jahren eine neue Produktionsroute mit einem Elektro-Lichtbogenofen (EAF) am Standort Völklingen und einem EAF und einer Direkt-Reduktionsanlage (DRI) zur Herstellung von Eisenschwamm auf dem Werksgelände von Dillinger entstehen. Bei Thyssenkrupp soll die Anlage für die Direktreduktion von Eisenerz im Jahr 2026 fertig sein, aber zunächst mit Erdgas arbeiten. Wasserstoff gibt es voraussichtlich ab 2029.
Die Anlagen für die Herstellung "echten" Grünstahls im großen industriellen Maßstab stehen noch nicht. Doch die Stahlhersteller befinden sich bereits im Wettlauf um den grünsten der grünen Stähle. Als Ausgleich für ihre erheblichen Mehrkosten auf dem Weg zur klimaneutralen Stahlproduktion suchen sie nach einer Rendite in Form von Prämien für zertifizierten kohlenstoffhaltigen Stahl gegenüber Standardmaterial. Denn es wird wahrscheinlich nur bei echtem grünen Stahl gelingen, die im Vergleich zu fossilem Stahl höheren Absatzpreise durchzusetzen. Und dieses „grüne Premium“ wird notwendig sein, um eine Produktion mit klimafreundlichen Verfahren wirtschaftlich zu ermöglichen.
Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums spricht sich dafür aus, die Nachfrage nach grünem Stahl gezielt über den Aufbau grüner Leitmärkte anzukurbeln. Das heißt, mit regulatorischen Maßnahmen sollen Absatzmärkte für klimafreundlichen Stahl etabliert werden. [3] Vor allem in Europa scheint es eine große Bereitschaft zu geben, den Preisaufschlag für grünen Stahl zu zahlen.
Damit dies funktioniert, müssen aber international akzeptierte Definitionen darüber existieren, welcher Stahl oder Grundstoff "grün" genannt werden darf. Diese vereinbarten Definitionen fehlen bisher.
Auf dem Weg zu CO2-freiem Stahl
Hersteller kennzeichnen ihren CO2-reduzierten Stahl mit eigenen Siegeln oder lassen sich in Gutachten bestätigen, dass sie deutlich weniger CO2 emittieren als der Branchendurchschnitt. So beispielsweise die Swiss Steel Group mit einem Gutachten vom deutschen TÜV Süd für das Stahlwerk Steeltec. Auch die Salzgitter Flachstahl GmbH hat sich vom TÜV Süd eine Konformitätsaussage für zwei Prozessrouten der Bandstahlproduktion erstellen lassen. [4]
Dieser Stahl wird zwar kohlenstoffärmer hergestellt als mit traditionellen Produktionsverfahren, doch die Bezeichnung "grün" bezieht sich meist auf den individuellen CO2-Fußabdruck des Stahls und nicht auf die verwendete Technologie. Das kann darüber hinwegtäuschen, dass der Stahl immer noch aus einer CO2-belasteten Produktion stammt. So dürften bei der sogenannten Bilanzierungsmethode CO2-Einsparungen im Prozess auf eine fiktive Menge Stahl umgerechnet werden. Diese fiktive Menge Stahl kann dann als „grün“ verkauft werden.
Oder aber die im Prozess eingesparte CO2-Menge darf als Zertifikat meistbietend gehandelt werden, wie vom Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums angedacht. Doch dann könnte ein Autohersteller für sein klimaneutrales Auto auch konventionellen Stahl einkaufen, der vom Lieferanten zuvor per CO2-Zertifikat in einen grünen Stahl verwandelt wurde, erklärt Klimareporter Jörg Staude: "So ein Zertifikatehandel ist anfällig für Greenwashing, weil fossile Erzeuger sich so recht preiswert in Grün umfärben können." [5]
Zurzeit steht also der Begriff "grüner Stahl" lediglich für CO2-reduziert produzierten Stahl. Echter grüner Stahl, bei dem nicht nur der Fußabdruck, sondern auch der gesamte Produktionsprozess nahezu CO2-frei ist, wird zunächst Mangelware bleiben. Dem liegt vor allem der Umstand zugrunde, dass sich die Transformation zur Klimaneutralität in Etappen vollzieht und von der Verfügbarkeit von grünem Strom und klimaneutralem Wasserstoff abhängig ist.
Solange grüner Wasserstoff knapp ist, muss die Stahlproduktion bei der Direktreduktion auch Erdgas nutzen und kann darum nur bedingt klimafreundlich sein.
Bestehende Messnormen
Für Stahl gibt es verschiedene Messstandards für die Bewertung der Emissionsintensität bzw. sie werden derzeit entwickelt. Diese Messstandards enthalten jedoch im Allgemeinen keine normativen Schwellenwerte für die Emissionsintensität.
Der Weltstahlverband worldsteel erfasst die von seinen Mitgliedern gemeldeten Daten zur CO2-Emissionsintensität anhand eines Handbuchs mit routenspezifischen Berechnungsanleitungen. Die gemeldeten Daten selbst sind vertraulich und die Benchmarking-Analysen erfolgen auf anonymisierter Basis. Erfasst wird nur der Prozess ab Aufbereitung des Eisenerzes bis zum fertigen Stahlprodukt.
Die Internationale Organisation für Normung (ISO) veröffentlichte erstmals im Jahr 2013 die ISO 14404 mit dem Titel "Berechnungsmethode für die Intensität von Kohlendioxidemissionen in der Stahl- und Eisenherstellung". Die ISO 14404-Reihe ist in ihrem Ansatz den Worldsteel-Messnormen sehr ähnlich.
Eine Untergruppe der Normen des CEN (Europäisches Komitee für Normung) befasst sich mit Methoden zur Messung von Gasemissionen, wobei die Norm EN 19694 die Treibhausgasemissionen energieintensiver Industrien abdeckt. Die Methode umfasst sowohl direkte als auch indirekte Emissionen.
Andere Standards und Zertifizierungssysteme dienen der Beurteilung der Nachhaltigkeit von Produkten, Projekten und Anlagen innerhalb eines Unternehmensportfolios. Beispielsweise liefert die ISO 20915 eine Berechnungsmethodik zur Lebenszyklusbestandsaufnahme für Stahlerzeugnisse.
Das globale Multi-Stakeholder-Zertifizierungsprogramm ResponsibleSteel deckt verschiedene ESG-Kriterien ab (Environmental, Social, Governance). ResponsibleSteel ist auch dabei, Schwellenwerte für eine nahezu emissionsfreie Stahlproduktion zu definieren.
Die Initiative Science Based Targets (SBTi) arbeitet mit Unternehmen zusammen, um freiwillige Emissionsminderungspfade auf Grundlage des Pariser Klimaabkommens zu entwickeln. Nachdem das Unternehmen sein Ziel festgelegt hat, wird es von SBT bewertet und aufgefordert, über die unternehmensweiten Emissionen zu berichten und die Fortschritte zu verfolgen.

Es existiert also eine Reihe an Rahmenwerken und detaillierten Protokollen zur Erfassung der Emissionsintensität. [6]
Die Internationale Energieagentur IEA plädiert nun für deren Konsolidierung, um sich auf eine gemeinsame Definition zur Emissionsintensität für die Stahlindustrie zu einigen. Dazu gehört auch die Zuordnung von konkreten Schwellenwerten zu den bisher gebräuchlichen qualitativen Begriffen wie "kohlenstoffarm", "emissionsarm", "grün", "Netto-Null". Bislang sind diese Begriffe ungenau in Bezug auf die spezifischen Mengen oder Grenzen, auf die sie sich beziehen. [6]
Auch die Wirtschaftsvereinigung Stahl ist – mit Blick auf das technisch Machbare – aktiv geworden und hat einen konkreten Vorschlag für ein Labelsystem vorgelegt. "Kernelement ist ein politisches Klassifizierungssystem, das eine Einordnung in eine Skala von fünf Stufen enthält, die vom State-of-the-Art bis hin zu nahezu emissionsfrei produziertem Stahl reicht." heißt es in dem Papier. Die höchste Stufe A definiert den nahezu klimaneutralen Stahl, der vollständig mit regenerativer Energie hergestellt wird. Aus Sicht der Stahlindustrie liegt damit nun ein Vorschlag vor, auf dessen Grundlage diskutiert werden kann, wie grüne Leitmärkte geschaffen und etabliert werden können. [7]
Quellen:
[1] www.iea.org/data-and-statistics/charts/global-end-use-steel-demand-and-in-use-steel-stock-by-scenario-2000-2050
[2] www.stahleisen.de/2022/07/13/standpunkt-der-effekt-von-gruenem-stahl-auf-die-anwender-ist-gross/
[3] www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ministerium/Veroeffentlichung-Wissenschaftlicher-Beirat/transformation-zu-einer-klimaneutralen-industrie.pdf
[4] www.tuvsud.com/de-de/wissenswert/stories/veristeel-de
[5] www.klimareporter.de/finanzen-wirtschaft/vom-grauen-zum-gruenen-stahl
[6] iea.blob.core.windows.net/assets/c4d96342-f626-4aea-8dac-df1d1e567135/AchievingNetZeroHeavyIndustrySectorsinG7Members.pdf
[7] www.stahl-online.de/publikationen/definition-gruener-stahl-ein-labelsystem-fuer-gruene-leitmaerkte/