Wir brauchen Pragmatismus statt Schulmeisterei

Deutschland und der ökologische Umbau

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Wie ist die Position der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb? Eine Bestandsaufnahme.

Für unsere Industrie werden jetzt die Weichen gestellt. Wir müssen die digitale und ökologische Wende schaffen und die CO₂-Emissionen radikal herunterfahren. Das betrifft nicht nur die energieintensiven Industrien und die offensichtlichen CO2-Verursacher, sondern alle Branchen. Es betrifft die Energiewirtschaft, die bereits eine deutliche Reduktion der Emissionen realisieren konnte, als auch den Verkehrssektor, in dem die Transformation bereits voll im Gange ist. 

Automobilbranche unter Druck

Der Wandel des Verkehrssektors ist unausweichlich, wenn Deutschland seine Klimaschutzziele erreichen will. Wobei es weniger die Frage ist, welche der unterschiedlichen Technologien sich durchsetzt, sondern wie sich der Mix gestalten wird. Während für Lkw, Schiffe und Flugzeuge eher Brennstoffzelle und Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe realistisch scheinen, ist es für Pkw der Elektroantrieb. Hier wird der E-Mobilität eine fundamentale Rolle zukommen. 

Allerdings wird mit der Verkehrswende der bisherige Technologie-Vorsprung deutscher Autobauer annulliert. Eigenes Know-how für Batteriezellen muss sich Deutschland erst aufbauen. 

Die chinesischen Autobauer, die Deutschland auf dem Sektor "Verbrenner-Motor" nicht schlagen konnten, nutzen jetzt die Gelegenheit, in der E-Mobilität anzugreifen und mit ihren niedrigen Preisen eine Marktlücke zu besetzen. Sie werden dabei industriepolitisch massiv von der Regierung in Peking gestützt. BYD, der größte chinesische Hersteller von E-Autos, dominiert nicht nur den chinesischen Markt, sondern plant auch, in Europa zu produzieren. Sollte die EU gegen chinesische Autoproduzenten Anti-Dumping-Zölle erlassen, würde das einem in Europa produzierenden chinesischen Unternehmen nichts anhaben. Obwohl die Verkaufszahlen der chinesischen Autobauer in Europa zur Zeit noch marginal scheinen, stehen deren Chancen auf Marktwachstum aufgrund der niedrigeren Preise gut. Denn die heimischen Elektroautos sind den meisten deutschen Autofahrern schlichtweg zu teuer in der Anschaffung.

Auf dem chinesischen Markt zeigt sich bereits, dass sich die Markenstärke der Deutschen bei Autos mit Verbrennungsmotoren nicht auf elektrische Antriebe überträgt. Die Automobilindustrie, eine der wichtigsten Branchen in Deutschland, befürchtet nun, den globalen Anschluss zu verlieren. Diese Stimmung schlägt sich auch in den Ifo-Konjunkturumfragen nieder. Obwohl sich die aktuelle Geschäftslage der deutschen Autohersteller deutlich verbessert hat, bewerten die deutschen Autohersteller ihre Geschäftsaussichten so negativ wie seit der weltweiten Finanzkrise 2008 nicht mehr. Der ifo-Index zeigt den fünften Rückgang in Folge. "Bei den Autobauern herrscht große Unsicherheit, wie zu Beginn des Kriegs in der Ukraine oder als im Herbst das Risiko einer Gasrationierung für die Industrie deutlich stieg." so Oliver Falck, Leiter des Ifo-Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien.

Es sind die Rahmenbedingungen

Doch die Mobilitätswende ist nicht das Problem der deutschen Wirtschaft, wie Prof. Achim Kampker von der RWTH Aachen erläutert. Kampker, Experte für E-Mobilität und Mitglied im „Expertenkreis Transformation der Automobilwirtschaft“ (ETA) des BMWK, analysiert die Rahmenbedingungen, in denen die deutschen Unternehmen agieren müssen. Und er kommt zum Schluss, dass in Deutschland zu wenig Produktivitätsfortschritte in den letzten Jahren zu verzeichnen waren. 

Der Standort ist aber nicht nur in Bezug auf Wirtschaftswachstum, sondern auch im Bereich Innovation zu langsam. Der Wandel erfordert neue Kompetenzen – aber um diese auf- und auszubauen, fehlt es an Fachkräften. Dies betrifft nicht nur den Sektor E-Mobilität, sondern zieht sich durch alle Wirtschaftszweige. 

Christian Peter, Managing Director Solarlab Aiko Europe GmbH, erklärt: "Die Innovationsgeschwindigkeit in China ist groß. Wenn ein Maschinenbauer dort vielleicht 1000 Maschinen bauen kann, baut er hier vielleicht 10 oder 100. Das macht einen großen Unterschied." Auch eine Produktion von Photovoltaik-Zellen würde sich in Europa nicht lohnen: "Man braucht zwei Dinge. Einen Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde über 20 Jahre garantiert. Dazu braucht man gute Angebote für Land und die Aussicht, gutes Personal zu finden. In Europa kommt dazu, dass sich viele Regulierungen ständig ändern." Aiko Solar ist einer der größten Photovoltaik-Hersteller der Welt.

Das Zusammentreffen der hemmenden Faktoren Fachkräftemangel, hohe Energiepreise und Schwächung der einheimischen Automobilindustrie schlägt sich in der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes nieder. IW-Ökonom Dr. Christian Rusche zeigt anhand der Datenbanken von Deutscher Bundesbank und OECD, dass ausländische Investitionen in Deutschland in 2022 fast vollständig eingebrochen sind. 

Diese Entwicklung bestätigen auch zahlreiche einheimische Unternehmen. Bei der jüngsten VDMA-Blitzumfrage unter Maschinen- und Anlagenbauern, an der 667 Mitgliedsunternehmen teilnahmen, gaben mehr als drei Viertel an, dass sich die Standortattraktivität in Deutschland in den vergangenen Jahren verschlechtert habe. 

Angesichts des düsteren Bildes, dass die deutschen Unternehmensverbände zeichnen, irritieren allerdings die jüngsten Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Laut der OECD-Studie sind die Gewinne deutscher Unternehmen in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als in vielen anderen Industriestaaten. Die Reallöhne gaben in Deutschland hingegen stärker nach als im OECD-Schnitt. Bei Geringverdienern sei dies durch die im vergangenen Oktober erfolgte Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde etwas abgefedert worden. In Zahlen: Dem überdurchschnittlichen Anstieg der Stückgewinne (Erlös abzüglich Kosten pro Einheit) um 24 Prozent steht ein unterdurchschnittlicher Anstieg der Lohnstückkosten um 13 Prozent gegenüber.

Streitpunkt Energiepreis

Die hohen Stromkosten belasten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen schwer. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die 16 Bundesländer zuletzt einstimmig für die schnelle Einführung eines günstigen Industriestrompreises gestimmt hatten. Die DIHK fordert eine Entlastung der Stromkosten von Steuern und Umlagen, eine Stärkung des direkten Ausbaus erneuerbarer Energien gemeinsam mit der Wirtschaft und ergänzende Maßnahmen für hochenergieintensive Unternehmen.

Aber in der Frage des Energiepreises gibt es starken Gegenwind. Der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick, hält den Industriestrompreis für einen Fehler. Deutschland würde auch dadurch nicht zu einem Land mit günstiger Energie. Selbst grünen Strom könnten andere Länder günstiger herstellen. Die energieintensiven Industrien machten gerade mal drei Prozent des Sozialprodukts aus. "Wir sollten das Geld nicht in die energieintensive Industrie stecken, sie wird auf Dauer ohnehin verschwinden." so Schularick.

Es geht ums Ganze

Nun ist Deutschland noch nach wie vor in vielen Bereichen und Nischen top, ganz vorne mit dabei der Maschinen- und Anlagenbau. Die Maschinen- und Anlagenbauer sehen ihre Branche daher auch als Schlüsseltechnologie bei der anstehenden Transformation und um global wettbewerbsfähig zu bleiben. Laut Patrick Schwarzkopf, Geschäftsführer VDMA Robotik + Automation, hat sich der Fachverband sogar das Ziel gesetzt, im Bereich Industrie-Roboter bis 2028 schneller als der vergleichbare Weltmarkt zu wachsen.

Doch in anderen Bereichen wie Software, Batterieherstellung und Chemie ist Deutschland oft nicht mal mehr in der ersten Liga dabei. Die weltweite wirtschaftliche Bedeutung Deutschlands sank zwischen 1970 und 2020 um 45 Prozent. 

Deutschland müsse eine agilere, risikotolerantere und experimentierfreudigere Innovationspolitik entwickeln, die Risikobereitschaft fördert, sagt OECD-Generalsekretär Mathias Cormann. Nur so könne das Land in den digitalisierten und ökologischen Branchen der Zukunft eine Führungsrolle übernehmen.

E-Mobility-Experte Kampker erklärt allerdings, dass Technologieinnovationen nicht ausreichen, wenn Deutschland erfolgreich bleiben will. Laut Kampker gehe es um die Organisation der gesamten Wertschöpfungskette. Und da Mehrwert nur dort entsteht, wo gearbeitet bzw. produziert wird, gehörten auch Gespräche über die persönliche Einstellung dazu, beispielsweise in Bezug auf deutsche Tugenden wie den Fleiß. "Wir sind in einer Phase angekommen, in der es ums Ganze geht." warnt er. 

Wir brauchen kritische Rohstoffe und wir brauchen Stahl

Um die Herausforderungen des globalen Technologiewettlaufs zu bewältigen, benötigt Deutschland einerseits kompetente Menschen, die die erforderlichen Technologien entwickeln, vorantreiben und umsetzen. Andererseits geht es aber auch um Ressourcen.

"Wenn wir uns das Beispiel Batterie anschauen, dann meine ich damit nicht nur die klassischen Batterierohstoffe, sondern auch den Stahl und die Materialien, um die nötigen Fabriken zu bauen." so Kampker.

Die europäischen Stahlhersteller investieren in großem Umfang in neue Anlagen und kohlenstoffarme Produktionsrouten, da sie davon ausgehen, dass die sogenannte Kohlenstoffsteuer ihren Stahl gegenüber billigeren Importen wettbewerbsfähig machen wird. Sie entwickeln Elektrolyseure und Anlagen zur Verarbeitung von kohlenstoffarmem Stahl und haben begonnen, Verträge zur Lieferung von Grünstahl zu unterzeichnen. S&P Global erwartet, dass die Käufer ihren Widerstand gegen die höheren Preise für grünen Stahl überwinden und die Nachfrage nach europäischem Stahl stark ansteigen wird.

Der Umstieg von fossilen Energieträgern auf erneuerbare Energiequellen verringert natürlich die Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen, jedoch wächst im gleichen Zug der Bedarf an Metallen. In Europa wären etliche der notwendigen Rohstoffe vorhanden, aber deren Abbau wird durch den gesellschaftlichen Widerstand gegen Mineralienprojekte eingeschränkt. Deutschland ist unter allen Ländern weltweit einer der größten Verbraucher mehrerer Industriemetalle, beispielsweise Kupfer und Nickel. Doch an den möglichen negativen Konsequenzen eines Rohstoffabbaus sollen lieber andere Länder leiden.

„Unser Hunger nach Rohstoffen zerstört anderswo Wälder, vergiftet das Grundwasser und raubt Menschen und Tieren ihre Lebensgrundlage." heißt es in einer gemeinsamen Studie der Umweltstiftung WWF und der Wirtschaftsuniversität Wien. Die größten Verursacher seien China (18 Prozent), die EU (14 Prozent) und die USA (12 Prozent), wobei Deutschland EU-weit der größte Treiber von bergbaubedingter Waldzerstörung ist. "Wenn hohe Umweltstandards vorgegeben werden und diese auch entsprechend überwacht werden, ist ein umweltverträglicher Bergbau durchaus möglich", kommentiert Geoökologin Gudrun Franken von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe die Studie. 

Zum umweltverträglichen Bergbau gehören aber auch die entsprechenden Investitionen, denn so etwas ist teuer. Chinesische Unternehmen sichern sich hier einen Wettbewerbsvorteil in Südamerika und Afrika, da sie geringere Anforderungen an Umwelt- und Menschenrechtsstandards stellen als europäische Unternehmen. Ryan Berg vom US-Zentrum für Strategische und Internationale Studien erklärt gegenüber der Fachzeitschrift „Foreign Policy“: „Die Regierungen wissen, dass sie durch die Zusammenarbeit mit chinesischen Unternehmen nicht das gleiche Qualitätsniveau erreichen – aber sie bereitet ihnen auch weniger Kopfschmerzen, es gibt weniger Vorschriften, weniger Vorträge über Umweltbelastungen und weniger Beschwerden von Nichtregierungsorganisationen.“

Gleichzeitig verfolgt China eine aggressive Wirtschaftspolitik, um sich die Pole-Position im globalen Wettlauf um Ressourcen zu sichern. Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte vor drei Jahren die Linie vorgegeben: „Wir müssen die Abhängigkeit internationaler Lieferketten von China verstärken und wirksame Gegenmaßnahmen und Abschreckungsmöglichkeiten gegen Ausländer schaffen, die die Versorgung nach China künstlich unterbrechen wollen.“

Ein verlässlicher Zugang zu kritischen Rohstoffen ist für die ökologische Wende Deutschlands unverzichtbar. Vor diesem Hintergrund gehören daher nicht nur eine konsequente Recyclingwirtschaft und außereuropäische Rohstoffimporte zu den Handlungsfeldern, sondern ebenso die Gewinnung einheimischer Rohstoffe. "Um einheimische Rohstoffe wettbewerbsfähig abzubauen und weiterzuverarbeiten, sind jedoch wettbewerbsfähige Energiepreise und schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren erforderlich, sowie die Akzeptanz in der Gesellschaft für einen heimischen Rohstoffabbau." heißt es im Resilienz-Papier des Expertenkreis Transformation der Automobilwirtschaft (ETA).

Welche Zukunft hat Deutschland als Industriestandort?

Die ungünstigen Rahmenbedingungen belasten Deutschland in mehrfacher Hinsicht. Wie wird der ökologische Umbau das Land verändern?

Der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, findet deutliche Worte: „Es wird leider kein Wirtschaftswunder geben, sondern eher etwas in Richtung Schweiß und Tränen“, sagte er gegenüber dem „Handelsblatt“. Er widerspricht damit der Prognose von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich vom ökologischen Umbau ein Wirtschaftswunder verspricht. „Wer funktionierende Atommeiler, Kohlekraftwerke und Heizungsanlagen ersetzt, schafft dadurch allein nicht mehr Wachstum. Schon gar nicht, wenn der neue Kapitalstock schlechtere Dienste leistet als der alte.“ Was das als Konsequenz für das Land bedeutet, fasst Fuest prägnant zusammen: „Gürtel enger schnallen ist angesagt.“

Auch BDI-Präsident Russwurm spricht Klartext: Der Nachholbedarf übersteige die Möglichkeiten und Ressourcen des Landes, warnt er beim "Tag der Industrie".

Russwurm mahnt Bodenständigkeit an: "Wir schreiben uns zu Recht Klimaschutz und Dekarbonisierung auf die Fahnen. Aber nicht vorschreiben und diktieren, was sein darf und was nicht. Da würden wir uns überschätzen und zugleich dem Vorwurf des verkappten Protektionismus, der Schulmeisterei und des Neokolonialismus aussetzen. Wir müssen priorisieren, was dringend ist und was zurückgestellt werden kann; was wir uns leisten können, wenn wir klimaneutral werden und unsere Unabhängigkeit bewahren wollen und auf was wir verzichten müssen, um dahin zu kommen; und wo es um unumstößliche Prinzipien geht, und wo Pragmatismus angemessen ist."

Und er mahnt: "Wir dürfen uns nicht selbst Lösungswege verbauen, die uns die Zukunft anbieten könnte."

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